Totengedenken 2020 - Der Sudetendeutsche Heimatkreis Komotau

Der Sudetendeutsche Heimatkreis Komotau
Start: 24.01.2002
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Totengedenken 2020

DAS JAHR 2020
Totengedenken
Predigt Pfarrer Michael Harzer, Seiffen
Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen. Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den Herrn sind dahin. Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin! Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir's. Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch: Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. (aus den Klageliedern Jeremias, Kap. 3)

Liebe Heimatfreunde des Brüxer und Komotauer Heimatkreises, liebe Geschwister,

wenige lebende Zeitzeugen sind es noch, die von den Schrecken der Frühsommertage des Jahre 1945 berichten können. Wir Jüngeren lesen mit Bestürzung, was damals in den Städten und Dörfern in Böhmen geschehen ist:  Unschuldige Männer, Frauen und Kinder wurden getötet, misshandelt, geschändet, ihres Eigentums und ihrer Heimat beraubt. Andere wurden vor lauter Angst und Kummer in den Tod getrieben. Wir hören die Namen der Orte Podersam, Postelberg und Saaz, Brüx, Duppau, Komotau und Außig, aber auch die der Deutschneudorfer Nachbarorte Kleinhan, Katharinaberg und Brandau, wir haben die Stätten des Leidens vor Augen.
Uns hier in Deutschneudorf sind nun besonders die Ereignisse um den 9. Juni 1945 in Komotau vor Augen: Damals ließ der berüchtigte Stadtkommandant Karel Prášil die männlichen Einwohner Komotaus zwischen 13 und 65 Jahren auf dem Jahnspielplatz am Komotauer Stadtpark antreten. Etwa 8000 mögen es gewesen sein. Ca.15 Leute werden wegen angeblicher SS-Zugehörigkeit vor den Augen und Ohren der verschüchterten Menge brutal totgeprügelt. Dann müssen sich die Übrigen in Sechser-Reihen formieren und es beginnt der Todesmarsch aus Komotau heraus - hinauf auf den Gebirgskamm hierher an die Grenze zwischen unserem Deutschneudorf und Gebirgsneudorf. Wohl an die 70 wurden auf dem Weg erschossen, weil sie einfach keine Kraft mehr zum Laufen hatten. Ihre Gräber kennt kein Mensch mehr.
Eine gespenstische Stimmung muss über unserem Grenztal gelegen haben, als sich an jenem Sonnabend, dem 9. Juni 1945, die Nacht auf die große Menschenmenge senkte, die an den Straßenrändern und auf den Wiesen lagerte. Die Einwohnerschaft war verschüchtert, manche versuchten zu helfen, wurden aber oft auch bedroht. Wer es aus den grenznahen Häusern Gebirgsneudorfs und aus Deutsch-neudorf ermöglichten konnte, suchte, als es Morgen wurde, Antwort im Gebet hier in unserer Kirche, so hat es mir die Annemarie Philipp berichtet.  Zwei Tage mussten die Männer ohne Essen und mit kaum etwas zu trinken ausharren, dann stand es fest: Die geplante Abschiebung an die russischen Truppen jenseits der Grenze fand nicht statt. Und so ging der Todesweg weiter hinunter in die Lager Maltheuern und Glashütte Komotau, wo noch weitere ihr Leben lassen mussten.  
Was wird die Männer auf dem grausigen Weg, in den kalten Nächten auf den Wiesen und in den Lagern, was wird die Frauen und Kinder zuhause damals getragen haben? War es das Ave Maria, das Vaterunser, das in der Stille gebetet wurde? Worte und Melodien aus den ergreifenden Sätzen der Deutschen Messe, die auch heute wieder erklingen? Bilder aus den Kirchen? Vielleicht waren es auch Klagen, wie wir sie aus dem Mund des Propheten Jeremia gehört haben, der vor über 2600 Jahren über seine geliebte und nun zerstörte und gedemütigte Stadt Jerusalem unverblümt vor Gott bringt?
Ganz gewiss war auch die verzweifelte Frage dabei, die Christus am Kreuz laut ausgerufen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ Ja, diese Frage treibt uns bis heute um: Warum hat Gott dieses Leid zwischen Völkern und Menschen damals in diesen 30er/ 40er Jahren zugelassen, dieses Aufeinanderlosgehen von Menschen, die doch eigentlich alle aufeinander angewiesen waren?
Ich glaube, dass wir die letzten Antworten auf diese Fragen erst bekommen, wenn wir miteinander einmal vor Gottes Thron  stehen werden. Die Sehnsucht, einmal Antwort auf diese Fragen zu erhal-ten, die lässt mich am Glauben festhalten. Mit dem Psalmisten bekenne ich: „Dennoch bleibe ich stets an dir, Herr“, gerade wegen aller Fragen und Nöte dieser Welt.
Eines aber fällt mir auf: Solche Gräueltaten, wie sie damals in den böhmischen Städten und Dörfern geschehen sind, wie sie davor in Auschwitz und Lidice, und noch früher, z.B. 1915 in Armenien und schon in den 1790er Jahren in Frankreich geschehen sind,  kamen dann, wenn Menschen sich völlig eigenmächtig fühlten. Solche perfiden, durchorganisierten Verbrechen geschahen, wenn Menschen sich nicht mehr Gott verantwortlich fühlten, wenn sie die Ewigkeitsperspektive verloren hatten. Franz Werfel, der 1890 in Prag geborene deutsch-jüdische Schriftsteller hat dieses Zeugnis dem 20. Jahrhundert schon 1939 in seinem Roman „Der veruntreute Himmel“ ausgestellt, wenn er schreibt: „Unsere Seelen wollen nicht mehr an ihre Unzerstörbarkeit glauben und damit an ihre ewige Verantwor- tung. Der veruntreute Himmel ist der große Fehlbetrag unserer Zeit. Seinetwegen kann die Rechnung nicht in Ordnung kommen, weder in der Politik noch auch in der Wirtschaft, denn alles Menschliche entspringt derselben Quelle. Eine konsequent gottlose Welt ist wie ein Bild ohne Perspektive. Ein Bild ohne Perspektive ist die Flachheit an sich. Ohne sie ist alles sinnlos. In der totalen Sinnlosigkeit sind aber auch unsere natürlichen Menschenrechte sinnlos, selbst das Recht, nicht getötet zu werden.“
Im Moment habe ich den Eindruck, Europa und besonders Deutsch- land ist dabei, seine Geschichte systematisch auszuradieren und zu vergessen und damit auch diesen einen so ganz wichtigen Gedan- ken: Wo Menschen eigenmächtig werden, wo sie das Gegenüber Gott vergessen, wo sie die Ewigkeitsdimension ausblenden, da werden sie früher oder später zu Bestien, denen nichts, nicht einmal das Leben und der Fortbestand der Kultur mehr heilig ist.
Ob die Situation dieses Jahres 2020, die vielen Fragen, die uns jetzt gestellt werden, auch nur ein paar Menschen das Gegenüber Gott und Jesus Christus neu in den Blick gebracht haben? Ich wünsche es mir von Herzen, denn dann gäbe es Hoffnung, dass sich Ereignisse wie die von 1945 in Böhmen nicht so bald wiederholen.
Denken wir noch einmal an Jeremia: Bei ihm erwächst aus der so ungeschminkten Klage eine große Gewissheit: „Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“
Ja, auch davon müssen wir reden: Die Güte des Herrn war 1945 nicht aus. Etliche, die das Jahr 1945 erlebt und überlebt haben, konnten mir bezeugen: Ja, es war schlimm damals, ganz furchtbar, aber Gott hat uns nicht fallen gelassen, wir durften eine neue Heimat finden, durften Familien gründen, spürten ganz oft reichlich den Segen Gottes. Ja, so manches Wunder haben wir erlebt. Die Heimatvertriebenen wurden oft Säulen der Gemeinden – hier in Sachsen in den evangelischen Kirchen die Schlesier und Ostpreußen, in Bayern und in anderen Gegenden die Sudetendeutschen.
Und auch das darf ich sagen: Wenn ich, wie ich es gern tue, im herrlichen böhmischen Erzgebirge und seinem Vorland zwischen Außig und Eger, zwischen Gebirgsneudorf und Saaz  unterwegs bin, entdecke ich: Da prägt noch immer die jahrhundertelange Geschich- te christlichen Glaubens das Land und da gibt es gar nicht so wenige jüngere und ältere Menschen, die davon etwas erfahren wollen. Da gab es gerade in der Zeit der Grenzschließung zwischen März und Juni 2020 wunderbare Kontakte zwischen Böhmen und Sachsen, da tauschen wir uns musikalisch aus und da gibt es hier und da gemeinsame Gottesdienste – sogar in zwei Sprachen. All das lässt mich hoffen und beten, dass Gott neu Raum gewinnen kann hier in unserem Erzgebirge, in Böhmen und Sachsen, in Deutschland und Tschechien, in Europa und in der ganzen Welt: „Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.“

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Fürbittgebet

75 Jahre sind es her, dass 8.000 Komotauer Männer vom dortigen Jahnsportplatz aus das Erzgebirge hinaufgetrieben wurden. Viele wurden erschossen, gequält und gedemütigt. Hier an dieser Stelle sollten sie der Sowjetischen Besatzungsmacht übergeben werden. Als dies nicht gelang, mussten sie bis zu 1 1/2 Jahre Zwangsarbeit in den Arbeitslagern von Maltheuern/ Zaluzi leisten. Stellvertretend für die Gemeinde der heimatvertriebenen Komotauer, die coronabedingt nicht anwesend sein kann bitten wir Dich Herr unser Gott:


Wir bitten für alle einstigen Teilnehmer des Todesmarsches von Komotau und die Insassen der Arbeitslager Maltheuern. Schenke ihnen die Kraft, ihren Peinigern zu verzeihen.

Wir bitten für alle Verstorbenen des grausamen Geschehens. Schenke ihnen Deine ewige Seligkeit.

Lass uns, Herr und Gott das grausame Geschehen immer in Erinnerung behalten.

Wir beten für alle Deutschen, die nur, weil sie Deutsche waren aus ihrer angestammten Heimat vertrieben wurden.

Wir beten für Jene, die an den Folgen der Vertreibung heute noch seelisch und krankheitsbedingt leiden. Lass sie, Herr, ihre Leiden standhaft ertragen.

Wir beten für unsere Ahnen, die auf den Friedhöfen der Heimat ruhen und auf deren Gräbern nie eine Kerze brennt.

Wir bitten Dich, Herr und Gott, um Verzeihung für die Gewalttaten, die in deutschem Namen fremden Völkern angetan wurden.

Herr und Gott, schenke uns die Einsicht und den Willen, uns mit unseren Vertreibern auszusöhnen.

Herr und Gott, schenke aber auch den Vertreibern dieselbe Einsicht, damit auch sie zu den Gräueltaten stehen, die sie an uns verübt haben.

Vater unser im Himmel,
Geheiliget werde dein Name
Dein Reich komme
Dein Wille geschehe im Himmel
also auch auf Erden.
Unser tägliches Brot gib uns heute
und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit
in Ewigkeit. Amen!

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